Schwabenkinder aus Serfaus
Es war um das Jahr 1450, als auf Komperdell in Serfaus ein Bergwerk in Betrieb genommen wurde. Kupfererz mit etwas Silber war am „Roten Stein“ entdeckt worden. Im Auftrag des Landesfürsten hatte man in ganz Tirol nach Silber gesucht und war auch hier fündig geworden. Die neue Verdienstmöglichkeit führte zu einer starken Zuwanderung. Um 1750 erreichte die Bevölkerungszahl einen Höhepunkt von 1116 Einwohnern. Nun kam es aber wegen Holzmangel im Schmelzwerk bei Urgen zur Einstellung des Bergwerkbetriebes auf Komperdell und damit wieder zu einer dramatischen Abwanderung. Auf den Bergbauernhöfen konnte man nur das notwendigste für die meist großen Familien erwirtschaften und es herrschte große Not. Schlechte klimatische Witterungsverhältnisse verursachten zudem Missernten und Hungersnöte. Viele planten nach Amerika auszuwandern oder versuchten im Ausland in Bergwerken unterzukommen. Kinder wurden in der schulfreien Zeit, den Sommer über, ins Schwabenland geschickt, um sie von der Schüssel zu haben.
Im Gemeindearchiv gibt es eine Verlassenschaftsabhandlung, die in besonderer Weise die Dramatik einer Familie um 1800 beschreibt: zwei junge Leute heiraten 1783. Aus der Ehe stammen zehn Kinder, sechs davon leben noch, als die Mutter am 4. Dezember 1799 und der Vater drei Wochen danach sterben.Im Verfachbuch des Gerichtes heißt es: „Ersteres hat im 37. Jahr, letzterer hingegen im 38. Jahr seines erreichten Alters das Zeitliche mit dem Ewigen verwegslet, Gott hab Gnad der Seelen! An Besitz ist unter anderen vorhanden. Ein Drittel einer Behausung, Stadl und Stallung mit Früh- und Kabisgarten. An Vieh: eine alte Frühkuh, eine junge Kuh, zwei Heustiere, zwei Kälber und vier Schafe. Der älteste Sohn, 17 Jahre alt und der zweite Sohn, 15 Jahre alt, sind bereits ins Schwabenland abgewandert. Für sie wird in der Verlassenschaftsabhandlung Zehrung, je eine Hose, Schneiderlohn, Knöpf und „Schuachnögl“ verrechnet.
Die übrigen vier Kinder zwischen zwei und dreizehn Jahren werden vorläufig bei Verwandten untergekommen sein. Ein Bub, 5 Jahre alt, wird später seinen Brüdern ins Schwabenland folgen. Von ihm ist bekannt, dass er dort nach Jahren einen Bauernhof um 1000 Gulden kauft und eine Bauerntochter heiratet. Er wurde zum Begründer einer großen Sippe im Schwabenland.
Herrmann Mangott, ehemaliges Schwabenkind erzählt im Alter von 88 Jahren: „Meine Eltern hatten 14 Kinder und der Ertrag aus der kleinen Landwirtschaft reichte kaum aus, uns alle zu ernähren. Zehn Jahre alt war ich, als mein Vater beschloss, mich ins Schwabenland zu bringen. Den Sommer über sollte ich vom Tisch sein und ein wenig Geld verdienen.
Ende April marschierten wir los. Mit dem Zug ging’s von Landeck nach Bregenz und mit dem Schiff nach Friedrichshafen. Dort waren auf dem Marktplatz etwa 1000 oder noch mehr Kinder versammelt und die Bauern aus der Gegend haben sich dann die Kinder ausgesucht. Man brauchte die Buben für Arbeiten am Feld oder im Stall und zum Vieh hüten. Die Mädchen mussten auf die Kinder aufpassen und der Bäuerin helfen.
Weiter erinnert sich Hermann Mangott: „Während mein Vater mit einem Bauern verhandelte bin ich den Tauben nachgesprungen, so viele Vögel hatte ich vorher noch nie gesehen. Als Lohn wurden 80 Mark und doppeltes „Häs“ (Kleidung) ausgemacht. Mein Vater sagte zum Abschied: “Mit dem musst du jetzt gehen und bleib brav!“ Mir ging es gut. Bei der Heuarbeit musste ich auf die Ochsen aufpassen, die Bremen (Stechfliegen) abwehren, dann wieder den Rechen oder die Gabel holen. Im Stall musste ich das Vieh füttern, Wasser aus dem Ziehbrunnen heben oder den Mist in den Schubkarren schöpfen.
Manchmal war ich „bockig“ und wollte nicht gehorchen, dann hat mich die Mutter des Bauern mit ihren gekrümmten Fingern zwischen die Rippen gestoßen, das hat weh getan! Die Schwester des Bauern nahm mich in Schutz: „Das Tiroler Büeble lässt du mir in Ruhe, das ist schon geschlagen genug!“
Im Herbst vor Simon und Juda (28. Oktober) sah ich durchs Fenster meinen Vater zum Haus kommen. In diesem Moment hatte ich starkes Heimweh. Meine Dienstleute hätten mich gerne den Winter über behalten, aber mein Vater drängte darauf, dass ich mit ihm heimgehe. Ich bin dann mit meinen Geschwistern wieder in der gewohnten Umgebung zur Schule gegangen. Das Schuljahr dauerte vom 1. November bis 30. April. In den folgenden Jahren war ich wieder Hirte und Knecht in meiner Heimat.
Alfred Tschuggmall
(Gemeinde – Archivar)
Aktion Leintuch
Sie stiegen auf, fuhren ab, versteckten sich vor Grenzpolizisten:
Die Schmuggler von Serfaus.
Immer wieder kommen Journalisten in unser Dorf, um Interessantes von unserer Geschichte, Kultur, vom Beginn des Tourismus zu erfahren, darüber in ihren Zeitungen zu schreiben und Werbung fürs Sonnenplateau zu machen.
Wir bringen den äußerst spannenden Artikel von Herrn Stefan Zahler Redakteur der „badischen Zeitung“ aus Freiburg in Deutschland vom Winter 2013:
Kalt war die Nacht. Und klar. Der Mond tauchte das Hochplateau in mildes Licht, die schneebedeckten wirkten furchteinflößend. Sollte es heute Nacht losgehen – bei der perfekten Sicht für die Burschen aus dem Dorf, aber auch für die gefürchteten Gendarmen? Oder warteten die mutigen Männer lieber auf den Schutz von Nebel, Wolken und Schneefall, indem sie unsichtbar wurden für die Grenzpolizisten mit ihren Gewehren?
Sicher ist: Franz Möderle, der Schmugglerkönig, der Mutigste der Mutigen, gab das Startzeichen. Wenn er ein großes Leintuch beim Hof seiner Eltern ein Stück außerhalb von Serfaus aufspannte, wussten die jungen Burschen aus dem Dorf, dass es in der Nacht losgehen würde. Dann schnürten sie ihre Lederschuhe, schnallten die Ski an, schulterten die großen, tragfähigen Rucksäcke und machten sich im Schutz der Dunkelheit auf nach Samnaun in die nahegelegene Schweiz.
Franz der Schmugglerkönig, Jörg Josef und die anderen gingen vom Dorf hinauf zur Hochebene Komperdell, von dort weiter nach hinten zum Masner und dann bald hinab ins zollfreie Samnaun. 1300 Höhenmeter, knapp 20 Kilometer eine Strecke, vier, fünf Stunden brauchten sie dafür. Sie stiegen auf, fuhren ab, horchten und versteckten sich in Felsnischen, wenn Grenzer auf Patrouille waren.
In Samnaun tauschten sie schließlich, jeder auf eigene Rechnung, Hobel und Axt, manchmal auch ein paar Hühner, gegen zu der Zeit Wertvolles: Tabak, Salami, Zucker, Seidenstrümpfe.
Wer heute in der Feriendestination von Serfaus-Fiss-Ladis im Österreichischen Tirol unterwegs ist, sommers wie winters, spürt von der bitteren Armut, die auf dem Hochplateau noch bis in die 60er jahre des vergangenen Jahrhunderts herrschte, nichts mehr. Die Spuren der Schmuggler, die nach dem zweiten Weltkrieg für ein paar Jahre ihre Familien mit dem Tauschhandel begehrter Waren vom zollfreien Samnaun über Serfaus ins wohlhabende Innsbruck über Wasser hielten, sind rar.
Mit modernen Bahnen schweben wir an einem schönen Wintermorgen bequem von Serfaus, Fiss oder Ladis aus über die Bergstation Komperdell zum Masner.
Es ist eine Reise in eine hochalpine, unwirtliche und gefährliche Welt – vor allem jetzt im Winter. Kein Baum stört dort oben das strahlende Weiß, das die Skifahrer so lieben, die 3000er-Gipfel ringsum ziehen faszinierte Blicke der Touristen auf sich.
Im Bergrestaurant Masner, gleich rechts neben dem Haupteingang, ist die Schmugglerstube.
Dort bekommen Skifahrer, Snowboarder und Wanderer – wenn sie denn hinschauen – einen Eindruck vom Mikrokosmos der Schmuggler.
Historische Fotos hängen an den Wänden, junge Männer in Lederschuhen und Riemenbindung.
Auf dem Buckel tragen sie Jutesäcke, die Seile schneiden in die Wolljacken. Dazu kurze Texte, die vom harten Schmugglerleben erzählen.
Schnee. Was die Skitouristen heute erfreut, war für den Schmugglerkönig und seine Wegbegleiter ein gefährliches, gleichwohl kalkulierbares Risiko.
Die Burschen kannten sich bestens aus in den Bergen, sie waren exzellente Skifahrer, teilweise Skilehrer.
Die größere Gefahr lauerte von den Grenzpolizisten. Die waren die schlechteren Skifahrer, hatten aber Gewehre – und ihr Befehle.
Deshalb wurden hin und wieder schon mal zwei Schmuggler ohne Rücksäcke auf eine Anhöhe vorgeschickt. „Wenn Grenzer sie anhielten, haben sie behauptet, sie würden ihre Freundinnen in Samnaun besuchen“, sagt Alfred Tschuggmall, der Dorfarchivar von Serfaus.
Oftmals hatten die Schmuggler auch freie Bahn – wenn Franz Möderle dem Kommandanten der Gendarmerie vor einer nächtlichen Tour ein paar Stumpen zugesteckt hatte, damit der die Grenzpolizisten in der Nacht in der falschen Richtung patrouillieren ließ.
Sechs, sieben Jahre waren die Serfauser Schmuggler des Winters unterwegs – nach Aussage von Tschuggmall ist von Schmugglertouren im Sommer nichts bekannt – narrten die Zöllner und ernährten so ihre Familien.
Dann wurde auf dem Hochplateau eine andere Einnahmequelle erschlossen:
Der Tourismus.
Serfaus baute Anfang der 50er Jahre die ersten Lifte, Fiss zog 1967 nach, 1980 erschloss die Seilbahn Komperdell GmbH das Skigebiet Masner, 1999 erfolgte der Zusammenschluss der Skigebiete Serfaus-Fiss-Ladis.
Aus den einst bitterarmen Dörfern hoch über den Inntal wurde eine der erfolgreichsten und damit wohlhabendsten Tourismusregionen Tirols.
Zig Preise zeugen davon, zuletzt wurde die Ferienregion in einer Befragung von Wintertouristen zum „Best Ski Resort 2012“ aus 55 Skigebieten im gesamten Alpenraum gewählt.
„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“
Das Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäcker könnte auch von Alfred Tschuggmall sein. Und deshalb forscht der Dorfarchivar unermüdlich weiter, sucht nach Quellen aus vergangener Zeit, hat eine Geschichte über die Kinder der Dörfer zusammengestellt, die als sogenannte Schwabenkinder zu Bauern im Allgäu gebracht wurden. Dort mussten sie über die Sommermonate als billige Arbeitskräfte bei der Ernte helfen, Holz machen, das Haus in Schuss halten. Und sorgten so dafür, dass in Serfaus, Fiss oder Ladis ein hungriger Mund weniger gestopft werden musste.
Talstation der Komperdell-Bahn in Serfaus, 19.00 Uhr. Der Skitag war lang.
Die Nacht ist kalt. Und klar. Der Mond scheint, die Berge wirken furchteinflößend. Wir sind ein letztes Mal für heute auf dem Weg zur Mittelstation – natürlich mit der Bahn. Dort oben findet wie jeden Mittwoch die Adventure Night statt, ein Mix aus Musikshow und spektakulären Darbietungen der Skilehrer. Es gibt Essen, Trinken und wer mag und noch genug Kraft hat, kann bis 23.00 Uhr Skifahren oder Rodeln.
Grenzpolizisten sind keine in der Nähe.
Autor:
Stefan Zahler
Bevor die Römer kamen…
gab es nach Serfaus schon einen SAUMWEG
Pfarrer Nairz schreibt um 1834 in seiner Pfarrchronik: „Nach einer alten Volkssage und noch einiger sichtbaren Spuren ging ehemals ein Saumweg von St. Christina (am Lande zischen Ried und Tösens) über Strahles nach Serfaus, wo noch an einem sehr alten Hause Saumpferde und Wagen aufgezeichnet sind. Von da lings über die Berge nach Samnaun nach der Schweiz. Jetzt gehet ein Fahrweg von Tschupbach nach Serfaus.“
Obwohl diese Angaben sehr spärlich sind, stecken darin wichtige Hinweise über eine Verbindung unseres Dorfes in vorgeschichtlicher Zeit (Serfaus war bereits um 1500 vor Chr. zur Bronzezeit besiedelt – Quelle: Dr. Notburga Wahlmüller, UNI Innsbruck, „Pollenanalyse auf Komperdell“)mit anderen Wegen in den Alpen.
Saumwege sind schmale Gebirgswege, bei denen der Mensch dem Saumtier vorausgeht und das Saumtier mit Last beladen hinterher.
Von St. Christina führte der Saumweg zum Inn, über eine Holzbrücke, dann über den Steilhang hinauf nach Matines, weiter über Tschiergli und bei Strahles vorbei ins Dorf Serfaus. In einer alten Dorfordnung im Gemeindearchiv wird berichtet, wie die Brücke gebaut und dann in Stand zu erhalten ist:
„Vidimierte Abschrift der drey Gemeinden Serfaus, Fiss und Ladis „Ehehaft“
(Ehehaft = Dorfordnung. Die Abschrift von 1624 ist vom Richter zu Laudegg beglaubigt (vidimiert). Das Originalpergament von ~1400 n. Chr. war wegen des vielen Gebrauchs nicht mehr lesbar.)
„So seindt auch Nachpauern von Serfaus gegen Ebner, Pruzern, Kaunern, aus baider driten Thaillen, ob die Pruggen zu Tesens hinging , das mir sye machen miesten, so soll Ebner und Kauner den ersten Enz (Enz = langer Baumstamm.) schieben, und den sollen mier empfachen, und danach sollen mir den Anderen schieben, und den sollen sye empfachen, und sollen ablegen die oberen Enz ihr sein – damit das meines Herren Strass gefierdet werde, das seindt unser Alte Recht.“
(So ist auch das Recht der Bewohner von Serfaus, wenn die Brücke zu Tösens schadhaft sein sollte, sodass wir sie machen müssten, so sollen die von der Talebene, die Prutzer und die Kauner den ersten „Enz“ über den Inn schieben und den sollen wir empfangen und danach sollen wir den anderen schieben und den sollen sie empfangen und sie sollen den oberen Enz ablegen, damit meines Herrn Straße gefördert werde, das ist unser altes Recht.)
Um 15 v. Chr. eroberten die Römer unser gebiet. Sie bauten eine bis zu 5 m breite Straße und nannten sie Via Claudia Augusta. Sie führte von der Poebene im Süden über den Reschenpass bis zur Verteidigungslinie gegen die Germanen im Norden. Diese Via Claudia Augusta war bereits für den Verkehr mit Wagen und vorgespannten Zugtieren geeignet. Wo es von Vorteil war, wurden die vorhandenen älteren Saumwege überbaut und die Holzbrücke durch Steinbrücken ersetzt (Quelle: Armin Planta – Schweizer Straßenforscher im Engadin „Verkehrswege im alten Rätien“). Verbindungswege neben dieser Straße blieben aber noch lange bis ins späte Mittelalter als Saumwege erhalten.
Nach vorherrschender Meinung der altstraßenforscher der UNI Innsbruck verlief die Trasse der Via Claudia Augusta von Finstermünz weg auf der linken Seite des Inn, um bei Tösens wieder nach rechts zu wechseln. Wie bei den römischen Straßenbauten üblich, wurde auch hier die Holzbrücke des Saumweges durch eine Steinbrücke ersetzt. Die angrenzende Siedlung auf der rechten Innseite bekam daher später den Namen „Steinbrücken“. Ein Hochwasserereignis könnte diese Römerbrücke zerstört haben, worauf sie wieder in Holz errichtet wurde.
Alfred Tschuggmall
(Gemeindearchivar)